Jean-Marie Straub und Danièle Huillet

Konzeption eines Filmes


Der folgende Text wurde auf Grundlage eines Vortrages erstellt, der am 11. März 1988 von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet an der Filmschule FEMIS in Paris gehalten wurde.

Man kann darin lesen – mit dem Jubel, den ein mathematisches Problem im Moment seiner Lösung hervorruft –, wie die Straubs es verstehen, sowohl die Künstlichkeit der Filmpraxis als auch deren unbeugsam wirklichkeitstreues Wesen allumfassend anzunehmen und ihre Arbeit als Filmregisseure als einen übergeordneten Druck zu begreifen, der auf Materien, Bewegungen, Dauern ausgeübt wird, die sich wiederum diesem Druck widersetzen (da eben nicht komprimierbar) und die in diesem stummen, verborgenen Kampf das Beste von sich geben, was in ihnen steckt, – und wie, ohne dass sie es ahnen würden, dies ihre Freiheit, ihre Einzigartigkeit, ihre Schönheit ausmacht.

Die auf die filmische Einstellung ausgeübte Kraft lässt Materien sicht- und hörbar werden, die in ihren allerkleinsten Bewegungen eingefangen werden. Sie verkörpern die Übereinstimmung – wenn nicht gar Identität – von Materie/Bewegung/Zeit, die die Grundlage des Straubschen Programms bildet.

Eine Sache wird ausgesprochen, ein Text. Und somit verbindet der Text die Sphäre der Ideen, aus der er stammt, mit der unmittelbaren, sinnlichen Sphäre der Körper, die ihnen Leben einhauchen, und mit der Natur, die sie nährt und die von ihnen genährt wird, indem sie [die Ideen] sie [die Natur] benennen. Der Körper, in dem die Sprache ertönt, wird zum Körper des Textes selbst, zu einem Körper, der sich über seine Rede erweitert.

Derart gefangen im System, werden die Materien festgehalten (als Bild, als Ton) und rotten sich zusammen, um der Welt fremd zu werden, die in der Filmeinstellung nicht enthalten ist, aber dennoch zum Ausdruck gebracht wird – sie befreien sich unendlich innerhalb der ihnen vom Filmemacher zugewiesenen Grenzen.

Die kinematografische Dialektik, derzufolge die Hülle des Realen, die als einziges dargestellt wird, den Film im Ganzen hervorbringt (oder enthält), sich aber der Film zugleich nicht auf das Sichtbare reduzieren lässt, wird kaum je so treffend nachgewiesen wie in den Filmen von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet.

Hier sind die Bäume Bäume und werden Bäume. Man studiert voller Genuss die feinen Wesensunterschiede der Farben (Blattgrün, Erdbraun, Himmelsblau, Hautkupferfarben...), der Klänge (Stimmen, Vögel, Schritte...), der Texturen (Haut, Soff, Erde...), die Unumkehrbarkeit der Gesten.

Die Einstellungen sind reich an konzertierter Armut – wie das zu verstehen ist, ist im Folgenden zu erfahren.

 

J.-M. S.: Es geht darum, ein Stück weit zu erklären, wie wir zum Beispiel Der Tod des Empedokles gefilmt haben. Hier also das Problem: Es gibt eine Szene mit fünf Figuren, die zu einem Herren kommen, über den vorab lange gesprochen wurde, der dort ist, in einem schwarzen Loch, und der der Staatsfeind ist... oder Tartuffe, ich weiss nicht recht... und der später auftauchen wird. Es wurde lang und breit über ihn gesprochen, zwei Frauen haben über ihn gesprochen, zwei Männer haben über ihn gesprochen, draußen auf einem Fußpfad. Diese beiden Gruppen haben jeweils nacheinander einen schwarzen Fleck mit den Augen zu durchdringen versucht, von dem sie sagten, dort ist die Quelle, dort im Dunklen, dort ist ein Mensch, der versucht hat, das ständig andauernde Fest einzuführen, und das stellt eine Gefahr dar, oder auch: Das ist ein feiner Mensch. Anschließend treffen fünf Figuren ein: zwei direkte Herrschaftsvertreter (der Staatsgewalt und der religiösen Gewalt) und außerdem drei Vertreter der Bourgeoisie, der Bürger, drei Abgeordnete. Die abstrakte Idee war, dass sie eine Art Kreisbogen bilden würden. Also bevor die Orte gefunden wurden, hatte ich mir anderthalb Jahre zuvor, auf dem Papier, einen Kreisbogen ausgedacht. Im Film ist es das geworden:

Zuallererst musste also der Ort gefunden werden. Wir haben fünftausend Kilometer runtergerissen und schließlich einen Ort gefunden. Es ergab sich, dass hier ein offener Raum ist, eine Art Lichtung:

Diese beiden hier saßen (wir werden auf die Szene zurückkommen, in der sie saßen). Dieser hier (Empedokles) steht als erster auf, er sagt: „Nein! Ich sollt es nicht aussprechen, heilige Natur! Verachtet hab' ich dich und mich allein zum Herrn gesetzt, ein übermüthiger Barbar!“˟ Er bleibt dort aufrecht stehen, während er spricht, und durch das Aufstehen wird ihm sein Kopf abgeschnitten. Der junge Mann steht danach auf, macht einen kleinen Rond de jambe, auf diese Weise, und sagt „Ja wohl“ und erwidert ihm „nein, nein, Du allein hast die Gesetze der Natur entdeckt, niemand kennt sie so wie Du, etc. ... und deshalb hast nur Du allein diese kühnen Worte aussprechen und Dich für einen Gott halten können.“ Und plötzlich hört der andere ihm nicht mehr zu und sagt: „Siehe! Was ist das? Hermokrates, der Priester“, (der zweite von links), „Kritias, der Archon“, (der erste von links), und „ein Hauffe Volks.“ „Was suchen sie bei mir?“



Das ist die Situation. Die erste selbstauferlegte Spielregel, die im Übrigen jeder, der Filme macht, sich auferlegen sollte, das scheint offensichtlich zu sein, war folgende...

Diese Achse, das ist ganz offensichtlich, durfte niemals mit der Kamera überschritten werden. Denn wenn wir sie überschritten hätten, um das zu filmen, was sich manchmal ausschließlich zwischen ihm (Empedokles) und den dreien abspielte, hätten sich Probleme ergeben, weil die hier (die beiden linken) manchmal aus dem Off sprachen, also dann von einem Ort aus gesprochen hätten, der nicht mehr existiert hätte, von einem Off-Raum, der nicht mehr respektiert würde, der nicht mehr der des Raumes wäre. Der Raum wäre noch respektiert worden hinsichtlich dessen, was sich zwischen diesem Herren hier (Empedokles) und diesem hier (Hermokrates) abspielte, aber schon ab dem Moment, wo wir auf der anderen Seite der Blickachse gewesen wären, hätte er (Empedokles) jenseits der Kamera geblickt (nach links), und das wäre quatsch gewesen. Diese Linie nicht zu überschreiten war eine Spielregel.

Die Spielregel bestand darin, einen Punkt für die betreffende Szene zu finden (es wird sich gleich noch verkomplizieren), der es einem ermöglichen würde, sowohl einen Einzelnen (Empedokles) als auch einen Einzelnen von diesen hier zu zeigen. Im Grunde genommen ist es in dieser Szene, im Gegensatz zur Szene auf dem Ätna, so, dass die Bürger nie getrennt sind; sie werden immer als Dreiergruppe gezeigt.

Es ging also darum folgendes filmen zu können:

Es musste also eine Stelle gefunden werden, die es einem erlauben würde, diese prozessmäßigen Beziehungen, zwischen Angeklagten und Anklägern, von einem Standpunkt aus zu filmen, der sich in dieser Region befindet, diesseits dieser Blickachse, ohne jemals darüber hinaus zu gehen. Wir haben uns also auf die Suche gemacht. So ergab es sich, dass wir diesen Punkt beinahe auf besagter Achse gefunden haben, etwas näher an den zweien dran als an den fünfen. Von diesem Kamerastandpunkt aus filmen wir Empedokles einzeln, filmen wir Pausanias einzeln, filmen wir die fünf, filmen wir die zwei, filmen wir einen und filmen wir einen. Das macht acht verschiedene Einstellungstypen.

Bevor die Kamera hin und her geschoben würde, war es das Wichtigste, in genau diesem Bereich folgendes zu ermitteln:

1. die richtige Anzahl an Schritten, die einen von der Bank trennen, wenn die Szene kippt, und die Ankläger eintreffen; ob es drei oder vier oder nur anderthalb oder zwei sein sollten; auch in Bezug auf den Satz, den er sagen würde (Was sind das bloß für Leute, die zu mir kommen, um mir auf den Sack zu gehen?). Das, das definiert Empedokles' Standpunkt.

2. den Abstand der fünf im Verhältnis zu den Säulen.

3. es mussten alle Unregelmäßigkeiten des Geländes miteinbezogen werden, damit dieser Herr (Hermokrates), der immerhin achtzig Jahre alt ist, gut aufrecht stehen konnte; damit der daneben einen angemessenen Abstand hat (darstellerisch ausreichend und dennoch psychologisch richtig), der es ihnen erlaubt sich zu unterhalten und sich im Streit Worte an den Kopf zu werfen. Oder auf die Seite zu gehen und zugleich sicherzustellen, dass, wenn man sie isolierte, nicht etwa der Mantel des einen in den Bildausschnitt des anderen ragt, oder die Nase des anderen etc.

4. den Abstand zwischen der Zweiergruppe und der Dreiergruppe (innerhalb der Fünfergruppe).

5. anschließend den Abstand zwischen den fünfen und den zweien (Empedokles und Pausanias). Erst nachdem wir diese Abstände gefunden hatten, haben wir auf dieser Fläche da den Kamerastandpunkt gesucht. Sobald das geschehen war, haben wir lediglich die Objektive gewechselt; das gilt für die gesamte Sequenz, den gesamten Prozess, bis zum Ende und für die Verwünschung und auch für die folgende Sequenz, in der diese ganzen Leute (die vier rechten) weggehen und einer zurückbleibt: es bleibt noch eine Szene zwischen Kritias, dem Archon, und Herrn Empedokles ganz alleine, die einer der schönsten Momente an politischem Theater ist, die je geschrieben wurden; sogar noch schöner als die der Griechen, zwischen dem alleine mit Kritias zurückgebliebenen Empedokles, bevor Empedokles seine Sklaven aufsucht, um sich von ihnen zu verabschieden.

Es ging also zunächst darum herauszufinden, ob wir etwas näher an der Fünfergruppe oder doch an der Zweiergruppe waren. Anschließend, je nach Zielsetzung, sagten wir uns: um diese da (die drei Bürger) zu isolieren, könnte eine 32er Brennweite passend sein. Um die Fünf zu zeigen, wird es wohl eine 25er oder 18er sein; wir wussten es nicht und mussten es herausfinden. Wenn wir einmal gesagt hatten, nein, lieber die 18er, musste rausgefunden werden, ob dieser Standpunkt, der für die fünf mit einer 18er funktionierte, auch galt, auch möglich war, mit einem anderen Objektiv, das bislang noch mit einem Fragezeichen versehen war, um die drei zu filmen; und anschließend, ob der Standpunkt immer noch gültig war für ein weiteres Objektiv, wieder mit Fragezeichen versehen, um die zwei zu filmen; und um dann mit einem anderen Objektiv einen zu filmen und den anderen. Und wenn wir dann dort angelangt waren, ob der Standpunkt noch gültig war für Empedokles ganz alleine oder für Pausanias ganz alleine oder die beiden. Also, da muss man schon ein wenig suchen... Die Darsteller sind da, wir lassen sie im Allgemeinen wie auf einer Theaterbühne auftreten. Sie treten ein während Empedokles spricht. Sie treten tatsächlich ein, im Off, man sieht nicht, wie sie sich aufstellen, aber sie stellen sich wirklich auf. Später, wenn wir ihre Positionen darstellerisch genau und psychologisch richtig im Raum festgehalten haben, treten sie ein. Die Kamera ist noch nicht vorhanden, aber wir schauen.

Dann finden wir einen ersten Punkt, berichtigen ihn innerhalb dieser Fläche, bis wir zwanzig Punkte später den Punkt gefunden haben, der auf all diese Bedingungen zutrifft, und auch dann noch zutrifft, wenn später Kritias und Empedokles alleine zurückbleiben.

Interessant ist aber, dass zuvor eine Szene war, in der sie auf einer Bank sitzen und vor der Szene, in der sie auf einer Bank sitzen, ist der Auftritt des Staatsfeindes oder des Tartuffe', ich weiss nicht recht, wie ich ihn nennen soll... Empedokles. Dieser Herr erscheint also

Es musste ein Aufnahmestandpunkt gefunden werden, der sowohl den Szenen mit den fünfen und den zweien gerecht würde, als auch... es „musste“ nicht, aber wir haben es versucht, denn wenn man schon Schach spielt, dann aber richtig...

Also dieser Herr, der hier erscheint und sich mit den Bäumen unterhält und anschließend das Messer nimmt und von dem man nur noch die Hand mit dem Messer sieht, und der dann den anderen sieht, der eintrifft, während er sich selbst verflucht (der Junge hat sich hier hingestellt und schaut ihm zu), und wenn man dann den Jungen sieht, das ist der Aufnahmestandpunkt, der ebenfalls für die fünf zutraf. Den haben wir gesucht für den Auftritt von Empedokles, der sollte ebenfalls passen für den Auftritt von Pausanias und danach auch für die Szene jenseits der Bank, die folgende. Und es ergab sich, dass das für den Mann, den man in Großaufnahme sieht, galt, der erschienen ist (man sieht ihn einmal in Großaufnahme), die Baumwipfel (zweimal), das macht zwei Einstellungsgrößen, also sagen wir einfach insgesamt neun (auch wenn es in umgekehrter Reihenfolge ist, weil die hier davor sind). Weitere Einstellungsarten: der Mann ohne Kopf mit dem Messer und der Boden vor ihm, das macht zehn (das wird zweimal wiederkehren), die Bäume, das macht elf (das wird auch zweimal wiederkehren) und, zuletzt, zwölf, die Hand, die das Messer greift... und schließlich, dreizehn, der Auftritt des jungen Mannes.

Wir sind bei dreizehn Einstellungen vom selben Kamerastandpunkt. Hier wird es nun interessant, denn wenn eine Einstellung, wie die der fünf, auch nur zweimal wiederkehrt, macht das dennoch schon eine Serie. Wenn welche, wie hier zwischen Kritias und Empedokles, vielleicht zehnmal wiederkehren, ergibt das eine andere, üppigere Serie. Wenn die Dreier-Einstellung viermal wiederkehrt, oder dreimal, ich weiss es nicht mehr, dann ist das ebenfalls eine weitere Serie, ein bisschen reduzierter, aber dennoch eine Serie. Wenn die Zweier-Einstellung... dreimal wiederkehrt, ist das ebenfalls eine weitere Serie usw... Das ergibt also Serien.

Sobald wir das bestimmt hatten, mussten wir dann noch wissen, aus welcher Höhe man diese Leute betrachtet. Das Prinzip war... genau gegenteilig zu Moses und Aron, wo wir uns auf aufeinander gesetzten Türmen befanden; Turm auf Turm kamen wir so manchmal auf Höhen von zehn Metern über dem Erdboden, oder lagen manchmal auf dem Boden, um das Auge an die Suchermuschel der Kamera zu kriegen. Hier, dieser Film, das war einer, wo alles von einer Höhe aus gefilmt wurde, die beibehalten wurde, was von jemand anderem auch schon als Augenhöhe bezeichnet worden ist˟˟˟. Das entsprach ungefähr meinen Augen oder denen des Kameramannes.

Ab da musste noch entschieden werden, wie sich noch etwas stibitzen oder nicht stibitzen ließ, weil sich Variationen ergeben. Wenn man die fünf sieht, sieht man enorm viel Boden vor ihnen. Sieht man dagegen die drei, sieht man ihre Füße schon gar nicht mehr, sondern nur noch ihre Hände: Es ist eine Art amerikanische Einstellung, denn auf diese Distanz, die für diese dreizehn Einstellungsarten passte, ergaben alle Brennweiten, die wir nutzten, um die drei zu isolieren (die möglich waren ohne zugleich ihren linken Nachbarn einzufangen), etwas, das ihre Füße zeigte, allerdings recht knapp, und wo es auch über dem Kopf recht knapp wurde; also haben wir uns entschieden, etwas höher zu gehen, und die Füße nicht zu zeigen. Und bei den zweien (Kritias und Hermokrates), sind noch weniger Füße usw. Und wenn man die fünf sieht, gibt es ganz viel Raum, ergibt sich also ein zusätzlicher Widerspruch, denn, wenn man sie gruppenweise oder einzeln isoliert, ergibt sich immer mehr Luft über ihren Köpfen, und der Boden ist zugleich immer weiter weg. Im Gegensatz dazu ergab sich für die beiden (Empedokles und Pausanias) ein Problem: Ich habe mich gefragt, ob ich bei dieser Mauer eine dieser Reminiszenzen machen sollte, die es von japanischen Filmen gibt (von vielen japanischen Filmen, nicht nur Mizoguchi), in denen, wenn es eine Mauer eines Palastgartens gibt, man Luft über der Mauer sieht, etwas Himmel... Man sieht, dass es eine Mauer ist, die nicht sehr hoch ist. Es musste also entschieden werden, wenn wir die beiden von diesem Kamerastandpunkt aus filmten, ob wir Himmel wollten über der Mauer. Wir haben schlussendlich die Mauer dann genau so gefilmt: die Bildkante knallhart oben an die Mauer, sodass nie der Himmel darüber zu sehen ist. Von dort an war vorgegeben, was an Boden vor ihnen zu sehen sein würde oder nicht, weil die Wahl von dieser Entscheidung bestimmt wurde. So ergibt sich, dass sie fortan viel Luft über ihren Köpfen haben, und man nie ihre Füße sieht.Und zwischen diesen beiden Szenen, ist noch die Szene mit der Bank, wo Empedokles von dort aus gefilmt wurde, während er auftritt und Pausanias, während er auftritt, und sie setzen sich beide hin (zunächst Pausanias). Und sobald sie sitzen, galt es eine weitere kleine Regel zu respektieren, derzufolge ich

Ab da haben wir dann gefilmt: die leere Bank; Empedokles, der sich setzt und sein Messer neben sich hinlegt; Empedokles alleine sitzend, weil der Junge ein bisschen auf sich warten lässt beim Hinsetzen; dann Empedokles mit dem sitzenden Jungen neben sich (niemals der Junge alleine, nur im Augenblick, wo der Junge sich erhebt). Und dann, wenn er sagt: „Siehe! Was ist das?“, macht die Kamera, die hier war [vgl. Skizze oben], einen Sprung zurück zum vorhergehenden Standpunkt, der der von Empedokles' Auftritt ist. Sie weicht mit Gewalt hierhin zurück, begibt sich auf Position Nummer 1, um dann den Prozess zu filmen.

So.

Sicherlich, auf diese Weise lässt sich die Schärfentiefe nicht beherrschen, aber genau das ist interessant. Weil man ab diesem Augenblick weiss, von welchem Standpunkt aus gefilmt wird; und man weiss, wenn man jemanden näher ran führt und zugleich sieht, dass die Unschärfe im Hintergrund je nach Objektiv zunimmt, dass das bedeutet, dass man in diesem Augenblick einen riesigen räumlichen Sprung gemacht hat, um ihn zu isolieren, und dass die Unschärfe dies zeigt... Außerdem hätten wir dieses System nie – wenn es sich überhaupt um eine System handelt – für eine Studioproduktion angewendet, wo es Beleuchtung gäbe...

D. H.: Ozu macht es.

J.-M. S.: Ja... gut... Ozu macht es... Diese Einstellungen hier, in denen wir zum Beispiel Kritias und Empedokles isolieren, oder Hermokrates und Empedokles, sind häufig Einstellungen mit einem 75er oder gar 100er, was ein Objektiv ist, das wir praktisch nie in den vorherigen Filmen genutzt haben. Im Gegenteil, im Kafka-Film (Klassenverhältnisse), haben wir ein 32er genutzt, was wir nie in anderen Filmen genutzt hatten. Hier, unter freiem Himmel, in einem am helllichten Tag unter der sizilianischen Sonne gedrehten Film – selbst wenn das Licht sehr wechselhaft und launisch war – sind die Unschärfen, sogar bei einem 100er, nicht derart, dass sie mich fotografisch gestört hätten: es zerstörte nicht das, was man hinter den Leuten sah. So weit so gut. Wir empfanden sie [die Hintergründe] trotz allem als unscharf, wenn auch die unscharfe Wirklichkeit sich nicht vollkommen in der Unschärfe verflüchtigt hat. Ich sage keineswegs, dass man das im Studio machen sollte, mit Beleuchtung, oder in einem Bärenarsch oder für eine nachts gedrehte Sequenz, weil dann der Raum... ich weiss nicht... Bis heute würde ich das ausschließlich hierfür machen und für nichts anderes. Andererseits hatten wir uns zuvor damit vergnügt, einen 27-minütigen Film – abgesehen von zwei Einstellungen am Ende – vollständig mit einem 18er zu drehen; die Schärfentiefe war also absolut und durchgängig (Der Bräutigam, die Komödiantin und der Zuhälter). Da haben wir's anders gemacht; mit jedem Film versuchen wir uns anders zu vergnügen, aber immer abhängig vom Thema und worauf wir Lust haben. In Nicht versöhnt habe ich keine einzige Unschärfe zugelassen, nicht einmal bei einer Großaufnahme. Deshalb sind wir ganz nah rangegangen, und häufig war bei den Großaufnahmen sogar ein 18er nötig, um unbedingt auch nur die mindeste Unschärfe zu verhindern. Wenn wir hier also zum ersten Mal Unschärfen zugelassen haben (relative, in Anbetracht der Sonne und des Tageslichts), so deshalb, weil wir einverstanden waren, genau diese Unschärfen zur Wirkung zu bringen. Ich sage nicht, dass das als Regel anzuwenden sei, weit gefehlt. Genau diese Regeln werden einem bestimmten Film gerecht, und das ist auch schon alles.

Selbstverständlich wurde diese Unbeweglichkeit der Figuren vor dieser Art Rumgedoktere mit der Kamera entschieden. Wann sich jemand bewegt oder den Bildausschnitt verlässt oder die Nase hebt oder die Nase senkt, das, das wurde im Zimmer entschieden, über einen Text, anhand von Situationen. Zunächst der Darsteller alleine, alleine mit uns; anschließend mit dem, dem er im Text antwortet oder nicht antwortet. Und schon im Zimmer, wo wir mit Distanzen geprobt haben, die nicht den wirklichen Distanzen entsprachen, waren sämtliche Bewegungen, wenn es welche gab – wichtige oder weniger wichtige, minimale oder heftigere –, keineswegs diesem System unterworfen. Das System hält in keiner Weise die Leute davon ab sich zu bewegen: Wenn sich jemand bewegt, wählen wir einen Bildausschnitt, der dem gerecht wird. Bewegt sich jemand fort im Film, gibt es nicht unendlich viele Möglichkeiten: Entweder folgt man ihm, oder man hat einen recht weiten Bildausschnitt gewählt, sodass er sich bewegen kann; man rennt dreißig Meter, oder man wirft sich zu Boden ohne ihm zu folgen. In diesem Fall, wählt man das Objektiv... Wenn sich in der Einstellung mit dem 18er die fünf hätten bewegen müssen, hätten sie es sehr gut tun können innerhalb des riesigen Raumes, der sich vor ihnen eröffnete. Waren aber im Gegensatz dazu die Figuren isoliert, so nur deshalb, weil uns bereits zweifelsfrei klar war, dass sie sich nicht würden bewegen müssen; sonst hätten wir erst gar nicht genau dieses Objektiv gewählt und sie auf diese Weise von einer Gruppe abgetrennt. Wir hätten dann, ganz im Gegenteil, den oder die sich bewegenden zum Beispiel mit einer 18er Brennweite gefilmt. Das System an sich verhindert keine Bewegungen.

D. H.: Der Beweis hierfür ist, dass in der Szene mit den beiden Frauen am Ende des ersten Aktes, eine sich vor der anderen auf die Knie wirft, was ja doch eine gewisse Form von Bewegung darstellt...

J.-M. S.: In einem Prozess gestikulieren und hüpfen die Leute entweder rum, oder es gibt eine Art theatraler oder liturgischer Feierlichkeit, oder was weiss ich, die einen Prozess eben zu einer extrem bedächtigen und statuarischen Angelegenheit macht.

Dieses Verfahren wurde also erst festgelegt, nachdem bereits die Bewegung festgelegt worden war... oder eher entdeckt, weil man Bewegung nicht festlegt, sondern entdeckt. Er sagt seinen Text auf, liest ihn zunächst über mehrere Wochen, bevor er auch nur seinen Arsch vom Stuhl hebt. Dann sagen wir ihm: Jetzt probieren wir das im Stehen. Und dann, zu einem bestimmten Augenblick, blickt er plötzlich ins Leere; wir sagen: Aber warum? Das bringt doch gar nichts. Oder aber er hebt plötzlich den Blick, und wir sagen uns: Das hier funktioniert! Anschließend versuchen wir das manchmal auf eine Silbe zu verschieben, auf einen Buchstaben, auf ein Wort oder auf den Anfang oder das Ende eines Satzes. Das, das findet lange vor jeglichem Rumgedoktere im Raum statt. Wir wussten, dass wir auf diese Distanzen kommen würden, weil wir zwischen den Proben auch die Drehorte suchten; wir hatten dann also schon den Ort gefunden und zogen alleine los, um einen auf Landvermesser zu machen und sagten: Wenn er dort ist, wo kann dann der andere sein? Müsste er nicht, in Relation zu den Säulen, etwas weiter vorne sein; zu diesen Pflanzen dahinter, und im Verhältnis zu den Unebenheiten des Geländes? Und so weiter… Dann passten wir den anderen an und sagten: Sie können nicht miteinander sprechen, wenn der andere so ist; also war etwas mehr Abstand nötigt. Und wenn das gefunden war, sagten wir: Jetzt die drei, sie werden das und das zu sagen haben; wir haben dann die Abstände festgelegt, indem wir einen auf kleinen Landvermesser gemacht haben, bevor wir sie, die Darsteller, im tatsächlichen Raum aufgestellt haben. Und sie, sie hatten den tatsächlichen Raum zu entdecken nach Abschluss der Proben. Von Proben, wo sämtliche Bewegungen in einem häufig eingeschränkten Raum entdeckt worden waren – eingeschränkt im Verhältnis zum tatsächlichen – und der in jedem Fall nahezu immer ein geschlossener Raum gewesen war, wohingegen der ganze Film in einem Raum mit offenem Himmel gedreht wurde. Die Unbeweglichkeit des Filmes, die vorhandene oder auch nicht vorhandene, die man ihm vorwerfen kann oder auch nicht, wurde also weder durch die Kamera noch durch den Raum bestimmt.


Transkription und Einleitung: Anne Benhaïem.
Übersetzung aus dem Französischen: Volko Kamensky.


Anmerkungen des Übersetzers (teilweise entsprechend den Anmerkungen zur englischen Übersetzung in: Sally Shafto (Hg.), Danièle Huillet, Jean-Marie Straub: Writings, New York (Sequence Presse, 2016):

˟ Vgl. Huillet, Danièle / Straub, Jean-Marie 1987: Friedrich Hölderlin. La mort d'Empédocle. Texte établi et traduit pour leur film par Danièle Huillet et Jean-Marie Straub. Toulouse. Ombres.

˟˟ Im frz. Orig. „Critias“, folglich in der Handskizze mit „C“ abgekürzt.

˟˟˟ Jean-Marie Straub bezieht sich hier vermutlich auf eine Aussage Howard Hawks': „Ich drehe ohne Umwege. Es gibt keine Kameratricks. Gewöhnlich steht die Kamera in Augenhöhe. Die Zuschauer sehen das, was ich auch sehe.“ Zit. nach: Blumenberg, Hans C. 1979: Die Kamera in Augenhöhe. Begegnungen mit Howard Hawks. Köln. DuMont. S.36.