Danièle Huillet (1936-2006) und Jean-Marie Straub (*1933)
Selbstbeschreibungen


Danièle Huillet: Das Interessanteste an mir ist mein Geburtsdatum: 1. Mai 1936.

Jean-Marie Straub: Ich bin älter als der Baudelaire, der sagte, er zähle tausend Jahre.

DH: Nach dem 2. Abitur bin ich einmal zur Sorbonne gegangen und nach einer halben Stunde wieder rausgelaufen, aus Haß und Erschrecken. Dann habe ich mich auf die I.D.H.E.C. vorbereitet – und bin dabei dem Straub begegnet. [...] Ich mochte überhaupt nicht blonde Leute mit heller Haut; als ich klein war, fand ich nichts schöner als die Mädchen auf der Schule in Paris (wo ich erst hinkam, als ich 13 war – vorher war ich auf dem Lande), die schwarz waren … Nur war eben Straub blond mit sehr heller Haut. Leider! Ich hatte Englisch und Spanisch gelernt und mußte dann zuerst Deutsch und schließlich Italienisch lernen … Schön dialektisch!

JMS: Geboren under Capricorn (wie die alte Dame in Nicht versöhnt) ("Die werden alt geboren", sagt Max Jacob) am Sonntag nach der Epiphanias in der Geburtsstadt von Paul Verlaine ("Et si javais cent fils, ils auraient cent chevaux. Pour vite déserter le Sergeant et l'Armée") und getauft auf den Namen des allerersten Militärdienstverweigerers (Jean-Marie Vianney, Pfarrer von Ars) das Jahr, wo Hitler an die Macht kam...
Bis 1940 nur französisch gehört, gelernt und gesprochen – zu Hause und draußen. Und auf einmal darf ich draußen nur noch deutsch hören und sprechen, und muss es in der Schule (wo wie überall draußen jedes französische Wort verboten ist) 'direkt' lernen, d.h. so wie etwas später meine älteste Schwester, die nach ihrem ersten Schultag zwei Sätze auf deutsch rezitierte: “Der böse Wolf hat die sieben Geisslein gefressen – Der liebe Gott hat die Welt geschafft“, und die, wenn man sie fragte, was bedeute auf Französisch "Der böse Wolf hat die sieben Geisslein gefressen", antwortete: "Le bon Dieu a crée le monde entier".
Nach der Befreiung, Schüler – bis zum 1. Abitur im Jesuiten-"Collège Saint-Clement" (wo ich lerne, dass Ungehorsam eine nicht nur poetische Tugend ist), dann ein Jahr im staatlichen Lycée; 2. Abitur.
Manifestation gegen die kümmerliche Programmierung der Filmtheater von Metz: erster Kontakt mit der – französischen – Polizei (einer der schlimmsten der Welt). Zweiter – viel brutalerer – Kontakt wenige Zeit später, wegen einer Aktion gegen den Nazismus der selbigen Polizei hinsichtlich der Algerier von Metz und Umgebung.

DH: 1954 war ich für ein Jahr in einer Schule zur Vorbereitung der IDHEC. Ich habe viele Filme gesehen wie Los Olvidados von Buñuel, das hat mich interessiert und ich wollte versuchen, Dokumentarfilme zu machen. Am Schluß stand ein Examen, das habe ich noch gemacht. Aber nach dem Film, den sie uns vorgeführt haben, gab ich einfach ein weißes Blatt ab und sagte, daß es eine Schande sei, einen solchen Film vorzuführen für eine Examensarbeit.
Dann traf ich Jean-Marie, damals im November. Das weiß ich noch genau, weil damals die algerische Revolution anfing. Er hatte seine Idee vom Film über Bach und fragte mich, ob ich ihm helfen würde, das Ding zusammen zu schreiben. '58 mußte er Frankreich verlassen wegen des Algerienkrieges. Er wollte nicht auf Algerier schießen, und Ende '59 bin ich auch nach Deutschland gekommen. So, das ist alles.
Die Zeit in Deutschland, das war die Entdeckung des Klassenkampfes und einer Gewalt, die auch in Frankreich und Italien existiert, aber nie so offen und klar auftritt. Wahrscheinlich weil die Heuchelei größer ist.

JMS: November 1954. Ich komme nach Paris (bis dahin nur ein paar Hin- und Rückfahrten Metz-Paris, per Anhalter, um einige Filme zu sehen: Journal d'un curé de campagne, Los Olvidados, The Quiet Man, Le Fleuve, Le Carrosse d'or, The Big Sleep, To Have and Have not, Monkey Business, African Queen, Beat the Devil, Big Heat, Der Blaue Engel, Subida al cielo...). Ich begegne Danièle Huillet und schlage ihr vor, an dem zu arbeiten, was 1967 die Chronik der Anna Magdalena Bach werden wird. Die ersten algerischen Granaten explodieren auf dem Pariser Pflaster und vornehmen Caféterrassen; „Péguy, Péguy, hier sind unsere Leute“, ruft Jeanne d’Arc aus.
Elf Jahre im Exil, weil ich die Einberufung zum Militär ablehnte und damit die direkte Komplizenschaft mit der „institutionalisierten“ Folter (Massu ist der einzige, der den Mut hatte, das laut zu sagen – aber wieviele Jahre später?).

DH: Wir haben alles zusammen gemacht. Nur daß es damals nicht Mode war, die Frauen zu erwähnen. Keiner hat es bemerkt. Bis die Mode kam, da haben sie plötzlich bemerkt, daß ich immer im Vorspann war. Das war lustig.

JMS: Es war einmal ein kleiner Filmemacher…, klein, aber bedrohlich, noch kaum Filmemacher und schon bedrohlich, klein und schon bedrohlich, klein und schon Filmemacher – Noch ist er nur ein Filmemacher – der bedroht –, aber immerhin Filmemacher genug, dass man gespürt hat, dass man spürt, dass man ihn hat spüren lassen, dass man ihn spüren lässt, dass er mit seinem Kinematographen durch seinen Kinematographen bedrohlich ist, bedrohlich war … dass er bedrohlich ist, sein Kinematograph, dass er das Kino mit seinem Kinematographen, durch den Kinematographen bedrohte, bedroht – dass der Kinematograph das Kino bedroht. Filmemacher, damit man weiß, dass sein Kinematograph das Kino bedroht, damit sein Kinematograph bedrohlich, eine Bedrohung ist.

DH: Wenn wir tot sind, können wir nicht mehr über die Filme sprechen. Das Filmmaterial ist sehr empfindlich und die Negative halten nicht ewig, aber eine gewisse Zeit werden die Filme uns überdauern und ich hoffe, daß sie den Leuten trotzdem etwas erzählen. Daß wir über die Filme diskutieren, kommt daher, daß das Verleihsystem überhaupt nicht mehr funktioniert. Straub diskutiert besser als ich. Ich weiß nicht, ob er es gerne macht. Ich denke, daß man damit einen Teil der Arbeit kaputt macht.
Ein Film ist eine Arbeit, die man bis ans Ende geführt hat. Eine Diskussion ist immer etwas, wobei man nur Halbwahrheit sagt oder Dinge forciert, die man im Film versucht hat, im Gleichgewicht zu halten. Bei einer Diskussion kann man sich auch nie die Zeit nehmen, wirklich nachzudenken, sonst würde man sagen: das dauert vielleicht acht Tage, bis ich Ihnen richtig antworten kann. Also per forza, wie die Italiener sagen, antwortet man manchmal zu schnell und sogar manchmal falsch. Wenn man dagegen einen Film macht, versucht man eben alle Möglichkeiten für den, der den Film sehen und hören wird, offenzulassen.

JMS: Anfang 1968. Die Chronik existiert endlich. Ich widme den Film, bei seiner Aufführung in München, den Bauern des Bayerischen Walds und den Vietcong (die B-52 bombardieren Hanoi täglich). Ein junger Student der DFFB, Holger Meins, der den Film gerade in Frankfurt gesehen hatte, erklärt, es sei der größte Film der Filmgeschichte.
Anfang 1975. Wir haben gerade unseren Schneideraum verlassen, da sehen wir auf der ersten Seite von Paese Sera in Rom das Photo einer Leiche, die aus einem Konzentrationslager kommt (dem Gefängnis in Hamburg): Holger Meins. Wir widmen ihm Moses und Aron – 24 Kader in den Anfangstiteln, die uns die Zensur der für die dritten Programme zuständigen Fernsehdirektoren der ARD einbringt, die den Film ko-produzierte. Hat Mose, der, wie Paul Verlaine (in Metz in einem Haus neben dem meiner Eltern geboren) schrieb, „noch immer der größte Prophet ist“, nicht seine „Karriere“ als Terrorist begonnen, als er einen Fronvogt erschlug? Er floh in die Wüste.

DH: Wir haben 1975 eine Tour durch die USA gemacht, wohin wir eingeladen waren, weil unser Film Moses und Aron beim New York Festival lief und wir von Universitäten gebeten wurden, mit Filmen zu kommen. Wir wählten die Universitäten entsprechend den Museen aus, in denen sich Bilder von Cézanne befanden, und so sahen wir zum ersten Mal die Cézannes der Barnes Foundation, die wir zum Teil gerade im Orsay wiedergesehen haben. Wir mussten per Anhalter in die Stadt zurückkehren, denn es gibt tatsächlich nicht viele öffentliche Verkehrsmittel, die die Umgebung der Foundation anfahren, aber wir waren so glücklich, endlich ein Museum gefunden zu haben, wo man es für normal hielt, dass die Leute zu den Bildern kommen, was immer zu schaffen ist, wenn man wirklich will, sogar fast ohne Geld – wir sind der Beweis! -, und nicht die Bilder zu den Leuten.

JMS: Man tut das nicht, weil man das gut und schön findet, sondern man tut es, damit die Leute sagen: „Aber das ist doch nicht möglich! So was dürfte nicht sein, auf keinen Fall, so was müsste nicht sein und so was muss nicht sein und so was darf nicht sein.“ Dieses Gefühl steckt in unseren Filmen, und wenn man prätentiös sein möchte, steckt es in jeder Einstellung drin. Wenn wir nicht für die Katz gearbeitet haben mit der Danièle.

 

Zitate aus:

Jean-Marie Straub, "Curriculum", Typoskript (handdatiert 1966), im Original deutsch, erstveröffentlicht auf italienisch in Cinema & Film No. 1 (1966-67), übersetzt von Adriano Aprá. Auf Englisch unter dem Titel "Straub Autobiograhpy" in: Sally Shafto (Hg.), Danièle Huillet, Jean-Marie Straub: Writings, Sequence Press, New York, 2016.

"Das Feuer im Inneren des Berges, Ein Gespräch mit Danièle Huillet von Helge Heberle und Monika Funke Stern", in: Frauen und Film, Heft 32, Juni 1982, Rotbuch Verlag, Berlin.

Danièle Huillet, "Témoignage d'une artiste: Pas mal de colères accumulés...", in: Nuances: bulletin d'information de l'Association pour le Respect de l'Intégrité du Patrimoine Artistique (Issy-les-Moulineaux), No. 3-4 (April 1994). Deutsche Erstübersetzung für "Sagen Sie's den Steinen" von Andrea Spingler. Auf Englisch unter dem Titel "Quite a lot of pent-up anger" in: Sally Shafto (Hg.), Danièle Huillet, Jean-Marie Straub: Writings, Sequence Press, New York, 2016.

Jean-Marie Straub, "Meine Schlüsseldaten", erstveröffentlicht unter dem Titel "Mes dates clés par Jean-Marie Straub", Libération, 30. April 2003, VI. Deutsche Erstübersetzung für "Sagen Sie's den Steinen" von Markus Nechleba. Auf Englisch unter dem Titel "My Key Dates" in: Sally Shafto (Hg.), Danièle Huillet, Jean-Marie Straub: Writings, Sequence Press, New York, 2016.

Jean-Marie Straub, Mikhail Lylov, Elke Marhöfer, "Tausend Klippen", in: Tobias Hering (Hg.), Der Standpunkt der Aufnahme, Archive Books, Berlin, 2014.